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Editorial
Landinfo 4/2024
Liebe Leserinnen und Leser,
über Jahrzehnte hatte „Kantinenessen“ ein schlechtes Image. Meist handelte es sich um rege-
nerierte Fertigprodukte mit „Sättigungsbeilagen“, pampigen Mehlsoßen und totgekochtem
Gemüse. Häufig gab es frittierte Speisen, die schwer im Magen lagen und das Salatdressing
schmeckte nach Konservierungsstoffen. Wo die Lebensmittel herkamen war irrelevant, solan-
ge der Einkaufspreis niedrig war. Die „Regenerationskost“ verlangte den Küchenteams auch
kaum noch Kochkunst ab; die Rezepthoheit lag zunehmend bei der Industrie.
Nun greift eine erfreuliche Trendwende um sich: „Gemeinschaftsverpflegung“ mit Nachhaltig-
keitsanspruch erfreut sich zunehmender Beliebtheit; manche sprechen gar von „Gemeinschafts-
gastronomie“, um den jetzt gehobenen Qualitätsanspruch zu betonen. Die Gemeinschaftsver-
pflegung soll heute nicht nur schmackhaft und gesundheitsförderlich sein, die Zutaten sollen
saisonal, regional oder bioregional, die Bewirtschaftung ressourcenschonend sein. Die geforder-
te pflanzenbetonte bio-regionale Frischküche verlangt Koch- und Rezepturentwicklungskom-
petenzen, Kenntnisse zum Umgang mit und Netzwerkaktivitäten zum Erwerb von Bio-Lebens-
mitteln in den benötigten Mengen, Speiseplanoptimierungen, Kommunikation und die Anwen-
dung von „Nudging“-Techniken, um Tischgästen eine intuitive Auswahl gesundheitsförderli-
cher und klimaschonender Gerichte zu ermöglichen. Um wirtschaftlicher und klimaschonender
produzieren zu können, müssen auch Lebensmittelabfälle reduziert werden. Schließlich helfen
Kenntnisse im Change-Management, Prozesstiefs im Team gemeinsam durchzustehen.
Diese Transformation hin zu nachhaltigeren Ernährungssystemen ist kein Zufall, sondern Aus-
druck politischen Willens auf Bundes- und Landesebene und setzt strukturelle Veränderungen
sowohl in rechtlichen Rahmenbedingungen (z.B. Bio-AHVV, S. 21; VwV Kantine, S. 12) als auch
in den Großküchen selbst (S. 27) und in den ihnen vorgelagerten Wertschöpfungsketten (S. 18)
voraus. Sie findet zudem in herausfordernden Zeiten statt: Steigende Ernergie- und Lebensmit-
telpreise, Fach- und Arbeitskräftemangel, New Work und die neue Unberechenbarkeit in der
Speisenplanung durch vermehrtes Homeoffice setzen die Hürden hoch.
Das LErn BW (Landeszentrum für Ernährung Baden Württemberg) baut seit dem Jahr 2019
kontinuierlich den Bereich Gemeinschaftsverpflegung aus, gemäß der Ernährungsstrategie
Baden-Württemberg, Leitsatz 7: „Wir fördern qualitätsvolle und nachhaltige Essensangebote
außer Haus.“ Dabei geht es nicht nur um Betriebskantinen, sondern um Prozessbegleitung und
Beratung in allen „Lebenswelten“: Kita und Schule, Landeskantinen, Hochschulen, Kliniken,
Reha-Kliniken und Senioreneinrichtungen. Das MLR richtete im Jahr 2023 die neue Abteilung 6
„Markt und Ernährung“ ein, um insbesondere die Produktion und Vermarktung (bio)regionaler
Produkte in großem Stil anzukurbeln. Nachfrage und Absatz sollen möglichst gleichzeitig und
für beide Seiten zuverlässig wachsen.
Lesen Sie in der vorliegenden Landinfo-Ausgabe zum Schwerpunktthema Gemeinschafts-/
Außer-Haus-Verpflegung, welche große gesellschaftliche Bedeutung der Gemeinschaftsverpfle-
gung zukommt (S. 6), welches Verpflegungssystem das Beste ist (S. 8), warum und wie Landes-
kantinen in Baden Württemberg mit gutem Beispiel voran gehen sollen (S. 12, S. 21) und wie
das MLR und das LErn BW die notwendigen Transformationsprozesse durch neue Vernet-
zungs-, Vermarktungs- und Beratungsangebote unterstützen (S. 15, S. 16, S. 10). Stimmen aus
der Praxis (S. 24, S. 29) vermitteln Ihnen, mit welchen Herausforderungen die Akteure vor Ort
zu tun haben und wie sie diese meistern.
Wahrlich, wir leben in aufregenden Zeiten! Dr. Stefanie Gerlach
LEL - LErn BW
Tel.: 07171 / 917 - 211
Dr. Stefanie Gerlach stefanie.gerlach@lel.bwl.
Leitung LErn BW de
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